Begleitheft
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Ausführliche Werkbeschreibung
Im Labyrynt
Luise von Cossart, Videoperformance, Lä.nge 7:24 min (Schleife); 2023
In der Weite des ehemaligen RAW-Geländes bewegt sich eine einzelne Protagonistin durch ein aus Gips gestreutes Labyrinth. Die Wege, Schleifen und Sackgassen ziehen sich über den gesamten Boden der Halle – eine ausgebreitete Kartografie des Suchens. Mit beharrlichen Schritten folgt sie den Linien, kehrt um, orientiert sich neu. Das Knirschen von Glas, das Rascheln vergilbter Unterlagen und das Geräusch beschleunigender Züge bilden die akustische Kulisse dieses tastenden Erkundens. Der zentrale Moment der Arbeit liegt im Sich Verlaufen.
Die Irrwege wurden instinktiv gestreut, ohne vorherige Planung, wodurch eine Gleichzeitigkeit von Intuition und Unbestimmtheit entsteht. Die kleine, beinahe figürliche Gestalt der Protagonistin steht im starken Kontrast zur Größe der Halle. Ein visueller Verweis auf das Verhältnis zwischen Eingrenzung und Erkundung. Labyrinth und Zufall existieren hier nicht als Gegensätze, sondern als kooperative Kräfte im Prozess des Suchens.
Als erste Arbeit des Projekts Schichtwechsel markiert dieses Werk den Beginn einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Raum, Orientierung und Veränderung. Es entstand aus der Erfahrung des Übergangs – einer neuen Stadt, eines neuen Ortes, einer gesellschaftlichen Umbruchszeit.
Hier beginnt die Suche.
Was tun mit verblühten Blumen?
Luise von Cossart, Papier, 46 x 68 cm; 2023
Die sechsteilige Werkreihe, bestehend aus DDR-Musterblättern, zeigt ein immer blasser werdendes Blumenmuster. Ausgangspunkt ist ein vertrautes, ornamentales Motiv, das mittels Lasertechnik schichtweise abgetragen wurde. Das Muster wird zum Echo, zur Erinnerung einer Erinnerung. Diese allmähliche Auflösung verweist auf den Prozess gesellschaftlicher und individueller Alterung – auf das Verschwinden von Vertrautheit und das gleichzeitige Entstehen von Fremdheit. Ein Wandel in der Gesellschaft, der nicht nur auf politischer, sondern auch auf privater Ebene spürbar wird. Sie untersucht das Spannungsverhältnis zwischen materieller Oberfläche und kollektiver Erinnerung. Die Arbeit spiegelt die Herausforderungen des Erinnerns und Verstehens der eigenen Geschichte wider. Sie entstand in einer Phase des beschleunigten Wandels, als der Zerfall der Gebäude – und mit ihm die materiellen Spuren der DDR – sichtbar wurde. Ein Nachhall des Vertrauten auf dem Weg ins Unsichtbare. In diesem Spannungsfeld zwischen materieller Spur und erinnerter Bedeutung entfaltet sich eine Reflexion über die Fragilität historischer Narrationen und die Bedingungen ihrer Sichtbarkeit.
Zeitkapseln oder Spuren verlorener Räume II
Luise von Cossart, Glas, Kohle; 2023
Die Arbeit Zeitkapseln besteht aus drei geblasenen gläsernen Behältnissen mit mehreren Kammern, die jeweils einige Stücken Kohle umschließen – Überreste verbrannter Gebäude des RAW-Geländes in Halle (Saale). Die Kapseln fungieren als Verwahrungsobjekt, als Erinnerungsstück und als Momentaufnahme zwischen materieller Zerstörung und symbolischer Kontinuität. Die Arbeit erzählt vom Loslassen, Abschied nehmen und von den Veränderungen, die damit einhergehen.
Das Glas fungiert hierbei als Grenze und Vermittler zugleich. Es konserviert das Fragment und überführt es zugleich in einen neuen Bedeutungsraum: von der Spur zur Form, vom Verlust zum Objekt. Das Sammeln und Einschließen der Kohle markiert den Versuch, eine Geste der Bewahrung gegen den fortschreitenden Verfall zu setzen. Was in der materiellen Welt vergeht, findet im Werk eine zweite Existenz – als verdichtete Erinnerung und als Reflexion über das Verhältnis von Zeit, Ort und Materie. Von Cossart bewahrt die letzten Spuren Ihrer Suche vor Ort auf. Der Vergänglichkeit zum Trotz.
Spuren verlorener Räume
Luise von Cossart, Farbe und Kohle auf Leinwand; 2024, 110x170cm
In reduzierter Farbigkeit zwischen tiefem Schwarz und einem ins Weiß changieren, entfaltet sich ein fragmentarischer Blick auf die Räume des ehemaligen RAW-Geländes in Halle. Ein Fenster mit Spitzenvorhang, alte Neonröhren, architektonische Bruchstücke – Spuren einer verschwindenden Ästhetik und zugleich Träger von Erinnerung. Ein Zustand der Verzerrung, in dem der Raum sich durch das Gewicht der Zeit verbiegt und verändert.
Zentral ist hier die Materialität des Werkes: Die Künstlerin arbeitet mit verbrannter Kohle, die sie nach einem Brand auf dem Gelände gesammelt hat. Das Trägermaterial wird so selbst zum Archiv, zum Speicher von Ort und Zeit. Die Transformation des zerstörten Materials in malerische Substanz ist eine Geste der Umwandlung – von Verlust zu Präsenz, von Vergänglichkeit zu Dauer. Es wird ein Spannungsfeld zwischen der Dokumentation von Verfall und der Transformation in etwas Neues eröffnet.
Der Spitzenvorhang, der sich über die rechte Bildhälfte erstreckt, fungiert als wiederkehrendes ikonisches Element im Werk von Cossarts. Er verweist auf eine kulturell eingeschriebene Bildlichkeit gewohnter Vertrautheit, die sich in der kollektiven visuellen Erinnerung verankert hat. Das Werk verhandelt Fragen nach der Persistenz und Stetigkeit des Materiellen und der Möglichkeit, durch künstlerische Praxis Erinnerung zu bewahren. Es setzt dem Chaos einen Moment der Verdichtung entgegen – eine Form, die aus dem Verfall hervorgeht und ihm zugleich widerstrebt.
Zwischentöne by k_einheit
Audioaufzeichnungen, 2024–2025
Die Audioaufzeichnungen geben den Stimmen der Teilnehmenden und Besuchenden Raum. Im Anschluss an die Generationendialoge und Workshops des Projekts “Generationsgeschichten” erzählten sie von Eindrücken, Erlebnissen und Gedanken, im Nachgang der Veranstaltungen. Manche antworteten auf konkrete Fragen, andere erzählten frei von persönlichen Erfahrungen, Emotionen oder Beobachtungen.
Die Aufnahmen sind mehr als eine Dokumentation – sie sind Erinnerungsstücke. Sie machen hörbar, wie Menschen Geschichte und Gegenwart deuten, welche Fragen sie bewegen und welche Hoffnungen sie tragen. Jede Stimme ist ein Fragment eines größeren Ganzen, ein Echo gemeinsamer Erfahrung.
So entstand ein vielstimmiges Klangarchiv europäischer Erinnerungskultur, das hörbar macht, wie unterschiedlich Menschen Geschichte und Gegenwart erleben. Die Stimmen erzählen von Transformation und Umbruch, von Familiengeschichten und gesellschaftlichen Erfahrungen, die bis heute nachwirken. Sie zeigen, wie Erinnerung, Identität und Zugehörigkeit in jeder Generation neu ausgehandelt werden.
Inhaltlich finden sich in den Aufnahmen Themen wie ostdeutsche Identität, die Rolle von Erinnerung in Familiengeschichten, Generationen im Dialog, Bleiben und Gehen, Aktivismus und gesellschaftlichen Wandel. Auch die Perspektiven aus Polen und Tschechien erweitern das Bild: Sozialismus, Transformation, Religion, Migration und europäische Solidarität erscheinen als Teil einer gemeinsamen, doch unterschiedlich gelebten Geschichte.
Aufgezeichnete Veranstaltungen:
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05. November 2024: Aktivismus verbindet: Generationen im Dialog (Zwickau)
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07. November 2024: Should I stay or should I go? Wenn Leben in Ostdeutschland (un)möglich ist (Chemnitz)
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17. Dezember 2024: Zukunftsfrage(n) Erzgebirge: Bleiben oder Gehen? (Thalheim)
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14. März 2025: Workshop in Warschau, Polen
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21. Mai 2025: Workshop in Budweis, Tschechien
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22. November 2024: Workshop in Chemnitz, Deutschland
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Die Stimmen laden ein, zuzuhören – nicht, um Antworten zu finden, sondern um die Vielfalt von Perspektiven zu begreifen, die unsere gemeinsame Geschichte tragen.
Collagen by k_einheit
2024 - 2025
In der zweiten Projektphase von “Generationsgeschichten: Grenzen überwinden, Identität(en) gestalten” wurden Workshops in Deutschland, Polen und Tschechien mit jungen Menschen (1997 - 2012) durchgeführt. Im Anschluss kamen die Teilnehmenden zu einer gemeinsamen Online-Konferenz im Sommer 2025 zusammen. Jede Collage erzählt von einem Ich – und zugleich von einem Wir. Aus Gesprächen, Erinnerungen und Visionen sind Bildräume entstanden, in denen Vergangenes und Zukünftiges ineinandergreifen. Zeitungsschnipsel, Fotos, Worte und Farben werden zu Schichten eines kollektiven Gedächtnisses.
Die Collagen halten fest, was im Wandel ist: Identität als bewegliche Struktur, als Zwischenraum von Geschichte und Gegenwart. Sie zeigen Spuren von Transformation – Familiengeschichten, Orte des Umbruchs, Brüche und Neubeginne. Was bleibt, wenn Systeme verschwinden? Was entsteht, wenn Grenzen sich öffnen?
Wie in einem Mosaik verbinden sich persönliche Fragmente zu einem europäischen Bild: kein geschlossenes Narrativ, sondern ein offener Prozess. Erinnerung wird hier nicht archiviert, sondern weitergeführt – als Einladung, die eigene Geschichte mitzudenken.
Durchgeführte Workshops:
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14. März 2025: Workshop in Warschau, Polen
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21. Mai 2025: Workshop in Budweis, Tschechien
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22. November 2024: Workshop in Chemnitz, Deutschland
Graphic Reordings by k_einheit
Stephanie Brittnacher, 2024; Mimi Hoang, 2024
Die Graphic Recordings von Stephanie Brittnacher und Mimi Hoang sind im Rahmen des Projekts “Generationsgeschichten” im Jahr 2024 entstanden. Während verschiedener Generationendialoge in Chemnitz und Umgebung übersetzten die Künstlerinnen gesprochene Worte, Diskussionen und Stimmungen in eine bildhafte Sprache. Linien, Figuren und Symbole halten fest, was im Moment geteilt wurde – Gedanken, Fragen und Emotionen, die sonst flüchtig bleiben, werden in visuelle Spuren verwandelt.
So entsteht ein kollektives Gedächtnis in Bildern: Jede Zeichnung verdichtet das Gesagte und Gehörte zu einer erzählerischen Topografie. Sie dokumentierten nicht nur Inhalte, sondern auch Atmosphären – das, was zwischen den Worten schwingt. Dadurch laden die Werke dazu ein, die Ereignisse erneut zu durchleben, nachzuvollziehen und weiterzudenken.
Inhaltlich visualisieren die Graphic Recordings Themen, die das Spannungsfeld zwischen Herkunft, Zugehörigkeit und Zukunft sichtbar machen: Wie begegnen sich Generationen in ihrem Engagement und Aktivismus? Was bedeutet es, in Ostdeutschland zu bleiben – oder zu gehen? Und wie verändern sich Lebensperspektiven in strukturschwachen Regionen wie dem Erzgebirge? Die Bilder machen diese Fragen sichtbar. Sie zeigen Stimmen, Beziehungen und Brüche – Momente der Verbundenheit ebenso wie des Auseinandergehens.
Die Graphic Recordings öffnen so einen Raum des gemeinsamen Erinnerns. Sie machen Dialoge erfahrbar, in denen unterschiedliche Perspektiven, Generationen und Lebensrealitäten aufeinandertreffen. Das Zeichnen selbst wird dabei zur Geste der Verbindung – zwischen Sprecherinnen und Zuhörerinnen, Vergangenheit und Gegenwart, Dokumentation und Interpretation.
Begleitete Veranstaltungen:
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Stephanie Brittnacher
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28. September 2024: CHEMNITZER WANDELungen: Generationendialog mit k_einheit (Chemnitz; gemeinsam mit bpb)
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Mimi Hoang
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05. November 2024: Aktivismus verbindet: Generationen im Dialog (Zwickau)
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07. November 2024: Should I stay or should I go? Wenn Leben in Ostdeutschland (un)möglich ist (Chemnitz; gemeinsam mit Jugendstil und DaMOst)
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17. Dezember 2024: Zukunftsfrage(n) Erzgebirge: Bleiben oder Gehen? (Thalheim)
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Das Nest der Arachne
Luise von Cossart, Skulptur; Glas, Spitzenvorhänge (aus dem RAW-Gelände), Seil/Schnur; 2025
Das Nest der Arachne entsteht vor Ort im Dialog zwischen der Künstlerin und den Besucher*innen. Ausgangspunkt der Arbeit ist der Raum der Werkstatt und aufgespannte Spitzenvorhänge aus dem ehemaligen RAW-Gelände, die zu fragilen Neststrukturen gewoben werden. Im Verlauf der Ausstellung füllen sich diese Nester mit kleinen Glaskapseln – Behältnissen, die von der Künstlerin vorbereitet und von den Teilnehmenden mit persönlichen Erinnerungen, Gedanken, Fragen oder Assoziationen versehen werden.
So entsteht ein wachsendes Gefüge aus Individuellem und Gemeinschaftlichem, eine sich verdichtende Topografie geteilter Erfahrung. Das Material der Spitzenvorhänge verbindet die ästhetische Sprache des RAW-Geländes, wie sie der Künstlerin vertraut ist, mit der gegenwärtigen räumlichen Situation der Werkstatt – einem Stellvertreterort ihrer eigenen Arbeitsweise und Erinnerung.
Die Arbeit spannt den Bogen über das gesamte Projekt Schichtwechsel: Sie greift den Habitus des Festhaltens und der Retrospektive auf, wendet den Blick jedoch zugleich in die Gegenwart. In der gemeinschaftlichen Handlung des Füllens und Verknüpfens entsteht ein neuer Ansatz des Erinnerns – kein archivierendes, sondern ein lebendiges, atmendes Gedächtnis. Der Titel verweist auf den altgriechischen Begriff der Arachne (ἀράχνη) zu deutsch: „Spinne“ und damit auf das historische Symbol des Webens und Spinnens als kollektive, schöpferische Tätigkeit. Dieses Motiv verbindet die kulturelle Arbeit des Erinnerns mit der künstlerischen Praxis des Verflechtens. Dieses Nest der Arachne wird so zu einem Ort des Neuanfangs für eine neue Form von kollektivem Gedächtnis.
Inventurdifferenz
Luise von Cossart, Zitatselektion; Bleisatz auf DDR Papier und RAW Unterlagen; Edition 2023
“Eine Inventurdifferenz ist die Abweichung zwischen dem Soll-Bestand und dem Ist-Bestand eines Unternehmens, die auf Fehler, Schwund, Diebstahl, Verderb, oder andere Ursachen zurückzuführen ist.”
Von dieser nüchternen Definition löst sich die Arbeit und überträgt sie in einen künstlerischen Kontext, in dem Differenz als metaphorischer Raum der Erinnerung und des Fragens erscheint. Die Arbeit versammelt eine Auswahl von Zitaten, entnommen aus den verbliebenen Unterlagen aus den Archiven des ehemaligen RAW in Halle (Saale). Präsentiert in herausnehmbaren Hängeregistraturen, werden sie zu materiellen Zeugen vergangener Ordnungen.
Inventurdifferenz versteht sich als Versuch, diesen Verlust sichtbar zu machen – als Ist-Zustand, der dem abwesenden Soll der Vergangenheit gegenübertritt. Materialität, Typografie und Herstellungsweise lehnen sich an die originalen DDR-Archivpraktiken an. Durch diese formale Nähe entsteht ein Spannungsfeld zwischen Authentizität und Inszenierung. Das Werk erscheint zugleich als historisches Dokument und als dessen bewusste Rekonstruktion – eine performative Geste, die die Unmöglichkeit einer exakten Wiedergabe von Geschichte offenlegt.
Die Zitate wurden nach ihrer emotionalen Intensität und ihrer „gefühlten Wahrheit“ ausgewählt – nach jenen Sätzen, die Fragen hervorrufen, Irritation stiften oder eine Überzeugung in sich tragen, dass Wahrheit in ihnen eingeschlossen liegt. In dieser Selektion verdichtet sich die subjektive Dimension der Recherche: Eine Suche nach Wahrhaftigkeit im Fragmentarischen, ein Tasten durch Erinnerung und Erzählung.
Inventurdifferenz reflektiert somit nicht nur einen historischen Zustand, sondern auch den Akt des Sammelns, Deutens und Zweifelns selbst. Sie markiert den Zwischenraum zwischen Fakt und Gefühl, Dokument und Fiktion – und wird damit zu einem zentralen Kommentar innerhalb des Projekts Schichtwechsel, das sich der Frage nach der Rekonstruktion von Vergangenheit stellt.
Phaeton, der Strahlende
hängende Skulptur (4-teilig); Glas, Metall; 2025
Im Raum verteilt hängen vier gläserne Skulpturen von der Decke. Jede Form besteht aus einer hohlen Glaskugel, über die während des Entstehungsprozesses ein oder mehrere Metallringe gezogen wurden. Diese Metallteile sind Fundstücke aus dem RAW-Gelände in Halle – Überreste technischer Apparaturen, deren ursprüngliche Funktionen für die Künstlerin unklar sind. Gerade diese Ungewissheit bildet den Ausgangspunkt der Arbeit: Sie eröffnet einen Raum der Hypothese, des imaginativen Rückschlusses auf Vergangenes, dessen Teil man nie war, dem man sich jedoch ausgesetzt sieht – in den stillen, verlassenen Räumen, in den unerzählten Geschichten des Ortes.
Der hohle Glaskörper, der an einen Planeten erinnernden Skulptur, markiert hier eine materielle Leerstelle, dessen sich eine inhaltliche Hypothese anschmiegt. Die formale Assoziation mit der Form eines Planeten stellt zudem einen Rückbezug auf die hypothetische Existenz eines zusätzlichen Planeten in unserem Sonnensystem namens Phaeton.
Damit verhandelt die Arbeit auf dieser Ebene die inhaltliche Tätigkeit und Verortung der Künstlerin innerhalb des Schichtwechsel-Projekts – eine hypothetische Annäherung und der Blick durch das Fernrohr des Astronoms in die eigene Vergangenheit.
Fußnote: Der Wissenschaftler Johann Daniel Titius stellte im 18. Jahrhundert eine empirische Formel auf, die die Bahnabstandsverhältnisse der damals bekannten Planeten in unserem Sonnensystem, beschreiben sollte. Aufgrund dieser Formel kam er zu dem Schluss, dass sich zwischen Mars und Jupiter ein zusätzlicher Planet befinden müsste – den er Phaeton nannte. Diese Theorie konnte widerlegt werden.
Renovierung von verlorenen Orten
Luise von Cossart, Annina Sarantis, Videoperformance, Projektion; Länge 27:24 min (Schleife); 2022
In einer Halle der ehemaligen Schmiede steht eine bunt besprühte Maschine – ein Relikt vergangener Arbeit und Erinnerung. In der Videoarbeit wird dieses Objekt von zwei Personen in einen abstrakt weißen Zustand überführt. Während sie Schicht um Schicht auftragen, tropft Regen durch die löchrige Decke. Geräusche des Tropfens vermischen sich mit dem gleichmäßigen Rhythmus ihrer Gesten. So entsteht ein stilles Zusammenspiel von Körper, Raum und Material.
Mit fortschreitendem Prozess verwandelt sich die Maschine zunehmend in einen Kontrastpunkt zum brüchigen Umfeld. Die weiße Oberfläche wirkt wie eine Projektion des Unversehrten – ein Versuch, den Verfall für einen Moment aufzuhalten. Doch dieser Akt der Übermalung bleibt ambivalent: Er ist sowohl eine Geste der Bewahrung als auch des Überschreibens.
Das „Weißeln“ wird so zu einer performativen Handlung, die Zeit und Erinnerung thematisiert. In einem beinahe vergeblichen Versuch, die Zeit rückwärts laufen zu lassen, entsteht eine Spannung zwischen der Veränderung des Objekts und dem sichtbaren Zerfall des Raumes. Der Akt des Übermalens überbrückt die zeitliche Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und lässt die Geschichte des Ortes als körperliche Spur neu aufscheinen.
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Instructions in the exhibition
Locations
Every memory has a place. Find your place and mark it with a sticky dot. You’re also welcome to place dots outside the boundaries shown. Do you have many places of memory? Leave several sticky dots.
Point by point, we fill the empty spaces with places of memory.
I am ...
Identity can be understood as the answer to the question of who you are. It arises from the interplay between your inner self and the social environment that shapes you. Identity is not a rigid construct. It is a constant process of negotiation and positioning.
The collaborative work “I am ...” makes this process visible. It shows how diverse these affiliations can be: regional, cultural, familial, social. We are never just one thing but always many things at once.
The threads overlap, intertwine, and cross. This creates a collective image in which personal biographies and intergenerational similarities are connected.
How it works:
Choose the color that symbolizes your generation. Use this color to mark all your perceived affiliations along the given points.
Zwischentöne (“nuances”)
Following the intergenerational dialogues and workshops in Germany, Poland, and Czechia, we captured the voices of participants. They make audible how people interpret history and the present, what questions move them, and what hopes they carry. Each voice is a fragment of a larger whole, an echo of shared experience.
Grab some headphones and let the voices speak for themselves.
The soundtrack to the exhibition
This playlist collects your songs from places that have shaped you, from futures you imagine, from an East that allows to be retold.
Add your song and become part of the audible We!
Click here for the playlist: https://nextgeneast-sound.my.canva.site/
Collages (2024 - 2025)
The collages were created during four workshops in Germany, Poland, and the Czech Republic. The aim of these workshops was to examine socialism, the transformation after 1989, and possible futures in the respective national and European contexts. The participants approached questions of history, memories, and identities in a personal manner.
In Chemnitz (Germany), an open discussion arose about personal identity in the tension between East German experience and European perspective. The effect of the transformation on participants' own lives was also reflected upon.
In Warsaw (Poland), participants worked with private photographs from the late 1980s and early 1990s. They put themselves in the shoes of the people or objects depicted, formulated their hopes and expectations for the period of change, and considered these thoughts from today's perspective.
In Budweis (Czech Republic), the focus was on the question: “What stories do we want to tell?” The participants worked on themes or emotions that became meaningful to them during the workshop and translated them into their own visual narratives.
Take time to look at, lift up, and explore these fragments.
Graphic Reordings by k_einheit
Stephanie Brittnacher, 2024; Mimi Hoang, 2024
The graphic recordings shown here were created as part of the Generational Dialogues. These encounters brought together people of different ages to talk about issues of the present, memories of the past, and ideas about the future.
Artists Stephanie Brittnacher and Mimi Hoang live-translated the diverse thoughts, statements, and emotions of the participants into visual images. The results were graphic recordings that make the conversations visible and preserve their dynamics, openness, and diversity of voices.
Inventurdifferenz
“Inventory discrepancy”; selection of quotations; lead typesetting on GDR paper and RAW documents; 2023 edition
The quotations exhibited are taken from handouts for employees of the Reichsbahn (railway) repair workshop (RAW) in Halle (Saale). They were part of a comprehensive propaganda system that aimed to convey the socialist worldview, generate approval for the state, and exercise social control.
In the GDR, political communication shaped almost all areas of life: school, work, leisure, media, and art. The content issued by the state was not only intended to inform, but also to create emotional bonds and convey a sense of shared mission. This language was intended to promote identification with the state and differentiation from the West, especially the Federal Republic of Germany. Propaganda in the GDR thus had several functions: legitimizing the regime, mobilizing citizens, and standardizing their behavior.
At the same time, many people were aware of the artificiality of this language. A tension arose between official rhetoric and everyday experience: the socialist ideal state, as evoked in quotations, contradicted the economy of scarcity, surveillance, and lack of freedom.
Today, these quotations may irritate, amuse, re-traumatize, or alienate. But they show how language was used to shape thinking and behavior. They remind us that political systems secure their power not only through laws or police, but also through words, images, and repeated narratives.
The bookshelf
You can browse through our bookshelf and read whatever you like. It offers space to linger and invites you to dive in deeper. We would be delighted if you only used the books in the exhibition, so that as many visitors as possible can enjoy them.
Workshop of Shared Memories
Take a piece of paper and a pen.
What memory would you like to share with this space?
What future could arise from this memory?
When you are finished, fold the piece of paper and place it in the box on the table.
The artist stores the collected memories in glass capsules and adds them to The Nest of Arachne (object to the right of the entrance). This creates a growing network of individual and shared experiences, a condensed topography of memory.
How Gen Z sees the East – Remembering, telling stories, shaping the future
35 years after reunification, Germany seems to have grown together; every generation born after 1990 seems to have grown up in a united Germany. Borders are hardly visible anymore: studying, working and traveling to all regions of the country are taken for granted. We pay the same taxes, and even pensions have technically been equalized. And yet – if you look closely, you can see that the former inner-German divide still runs through the realities of life, opportunities, and perceptions. Differences can be noticed in income, wealth, inheritance, and life expectancy – but also in less tangible areas such as everyday conversations, representation, networks, and feelings.
Looking back
The starting points for the exhibition were conversations that took place in Chemnitz, Zwickau, and Thalheim— when young and older generations came together to talk about the past, present, and future. Those conversations were not just about memories, but also about shared experiences: the struggle for visibility, for democracy, the question of whether to stay or to leave—and why. We were able to identify commonalities, learn from each other, create and experience a sense of community at a time when intergenerational spaces are becoming increasingly rare.
Looking to the East
The exhibition broadens the view further to the East and thus beyond Germany. If the West is seen as the norm and the East as a deviation from it, many insights remain undiscovered. Several other countries underwent postsocialist transformation at the same time as East Germany, grappled with similar challenges, and in some cases solved them in very different ways. It is worth taking a look at how, in Poland, as a safeguard against flooding of the housing market with foreign capital, people were given the opportunity to buy their own homes for a fraction of the market price. Or how in Czechia, small businesses in crafts, gastronomy, and retail were (re)privatized through auctions open only to citizens. Political decisions like those still have a significant impact on the views and lifestyles of young people today.
Looking ahead
This exhibition looks at the East from the perspective of the Generation Z—young people born between 1997 and 2012. Their views on transformation, origin, and identity(ies) is characterized by both distance and closeness: they are growing up in a united Germany and Europe, but their family histories, encounters, and experiences bear traces of division.
We view the Generation Z as storytellers of our time. We do not repeat old narratives but focus on unheard stories: those of Vertragsarbeiter (contract workers) or migrants, those of neighboring countries such as Poland and Czechia, those of young people who shape the East of Germany today and help create new utopias. This exhibition is our attempt to make those voices heard and weave together those experiences—into a collective and inclusive memory.
Detailed descriptions
Im Labyrynt
Luise von Cossart, Videoperformance, Lä.nge 7:24 min (Schleife); 2023
In der Weite des ehemaligen RAW-Geländes bewegt sich eine einzelne Protagonistin durch ein aus Gips gestreutes Labyrinth. Die Wege, Schleifen und Sackgassen ziehen sich über den gesamten Boden der Halle – eine ausgebreitete Kartografie des Suchens. Mit beharrlichen Schritten folgt sie den Linien, kehrt um, orientiert sich neu. Das Knirschen von Glas, das Rascheln vergilbter Unterlagen und das Geräusch beschleunigender Züge bilden die akustische Kulisse dieses tastenden Erkundens. Der zentrale Moment der Arbeit liegt im Sich Verlaufen.
Die Irrwege wurden instinktiv gestreut, ohne vorherige Planung, wodurch eine Gleichzeitigkeit von Intuition und Unbestimmtheit entsteht. Die kleine, beinahe figürliche Gestalt der Protagonistin steht im starken Kontrast zur Größe der Halle. Ein visueller Verweis auf das Verhältnis zwischen Eingrenzung und Erkundung. Labyrinth und Zufall existieren hier nicht als Gegensätze, sondern als kooperative Kräfte im Prozess des Suchens.
Als erste Arbeit des Projekts Schichtwechsel markiert dieses Werk den Beginn einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Raum, Orientierung und Veränderung. Es entstand aus der Erfahrung des Übergangs – einer neuen Stadt, eines neuen Ortes, einer gesellschaftlichen Umbruchszeit.
Hier beginnt die Suche.
Was tun mit verblühten Blumen?
Luise von Cossart, Papier, 46 x 68 cm; 2023
Die sechsteilige Werkreihe, bestehend aus DDR-Musterblättern, zeigt ein immer blasser werdendes Blumenmuster. Ausgangspunkt ist ein vertrautes, ornamentales Motiv, das mittels Lasertechnik schichtweise abgetragen wurde. Das Muster wird zum Echo, zur Erinnerung einer Erinnerung. Diese allmähliche Auflösung verweist auf den Prozess gesellschaftlicher und individueller Alterung – auf das Verschwinden von Vertrautheit und das gleichzeitige Entstehen von Fremdheit. Ein Wandel in der Gesellschaft, der nicht nur auf politischer, sondern auch auf privater Ebene spürbar wird. Sie untersucht das Spannungsverhältnis zwischen materieller Oberfläche und kollektiver Erinnerung. Die Arbeit spiegelt die Herausforderungen des Erinnerns und Verstehens der eigenen Geschichte wider. Sie entstand in einer Phase des beschleunigten Wandels, als der Zerfall der Gebäude – und mit ihm die materiellen Spuren der DDR – sichtbar wurde. Ein Nachhall des Vertrauten auf dem Weg ins Unsichtbare. In diesem Spannungsfeld zwischen materieller Spur und erinnerter Bedeutung entfaltet sich eine Reflexion über die Fragilität historischer Narrationen und die Bedingungen ihrer Sichtbarkeit.
Zeitkapseln oder Spuren verlorener Räume II
Luise von Cossart, Glas, Kohle; 2023
Die Arbeit Zeitkapseln besteht aus drei geblasenen gläsernen Behältnissen mit mehreren Kammern, die jeweils einige Stücken Kohle umschließen – Überreste verbrannter Gebäude des RAW-Geländes in Halle (Saale). Die Kapseln fungieren als Verwahrungsobjekt, als Erinnerungsstück und als Momentaufnahme zwischen materieller Zerstörung und symbolischer Kontinuität. Die Arbeit erzählt vom Loslassen, Abschied nehmen und von den Veränderungen, die damit einhergehen.
Das Glas fungiert hierbei als Grenze und Vermittler zugleich. Es konserviert das Fragment und überführt es zugleich in einen neuen Bedeutungsraum: von der Spur zur Form, vom Verlust zum Objekt. Das Sammeln und Einschließen der Kohle markiert den Versuch, eine Geste der Bewahrung gegen den fortschreitenden Verfall zu setzen. Was in der materiellen Welt vergeht, findet im Werk eine zweite Existenz – als verdichtete Erinnerung und als Reflexion über das Verhältnis von Zeit, Ort und Materie. Von Cossart bewahrt die letzten Spuren Ihrer Suche vor Ort auf. Der Vergänglichkeit zum Trotz.
Spuren verlorener Räume
Luise von Cossart, Farbe und Kohle auf Leinwand; 2024, 110x170cm
In reduzierter Farbigkeit zwischen tiefem Schwarz und einem ins Weiß changieren, entfaltet sich ein fragmentarischer Blick auf die Räume des ehemaligen RAW-Geländes in Halle. Ein Fenster mit Spitzenvorhang, alte Neonröhren, architektonische Bruchstücke – Spuren einer verschwindenden Ästhetik und zugleich Träger von Erinnerung. Ein Zustand der Verzerrung, in dem der Raum sich durch das Gewicht der Zeit verbiegt und verändert.
Zentral ist hier die Materialität des Werkes: Die Künstlerin arbeitet mit verbrannter Kohle, die sie nach einem Brand auf dem Gelände gesammelt hat. Das Trägermaterial wird so selbst zum Archiv, zum Speicher von Ort und Zeit. Die Transformation des zerstörten Materials in malerische Substanz ist eine Geste der Umwandlung – von Verlust zu Präsenz, von Vergänglichkeit zu Dauer. Es wird ein Spannungsfeld zwischen der Dokumentation von Verfall und der Transformation in etwas Neues eröffnet.
Der Spitzenvorhang, der sich über die rechte Bildhälfte erstreckt, fungiert als wiederkehrendes ikonisches Element im Werk von Cossarts. Er verweist auf eine kulturell eingeschriebene Bildlichkeit gewohnter Vertrautheit, die sich in der kollektiven visuellen Erinnerung verankert hat. Das Werk verhandelt Fragen nach der Persistenz und Stetigkeit des Materiellen und der Möglichkeit, durch künstlerische Praxis Erinnerung zu bewahren. Es setzt dem Chaos einen Moment der Verdichtung entgegen – eine Form, die aus dem Verfall hervorgeht und ihm zugleich widerstrebt.
Zwischentöne by k_einheit
Audioaufzeichnungen, 2024–2025
Die Audioaufzeichnungen geben den Stimmen der Teilnehmenden und Besuchenden Raum. Im Anschluss an die Generationendialoge und Workshops des Projekts “Generationsgeschichten” erzählten sie von Eindrücken, Erlebnissen und Gedanken, im Nachgang der Veranstaltungen. Manche antworteten auf konkrete Fragen, andere erzählten frei von persönlichen Erfahrungen, Emotionen oder Beobachtungen.
Die Aufnahmen sind mehr als eine Dokumentation – sie sind Erinnerungsstücke. Sie machen hörbar, wie Menschen Geschichte und Gegenwart deuten, welche Fragen sie bewegen und welche Hoffnungen sie tragen. Jede Stimme ist ein Fragment eines größeren Ganzen, ein Echo gemeinsamer Erfahrung.
So entstand ein vielstimmiges Klangarchiv europäischer Erinnerungskultur, das hörbar macht, wie unterschiedlich Menschen Geschichte und Gegenwart erleben. Die Stimmen erzählen von Transformation und Umbruch, von Familiengeschichten und gesellschaftlichen Erfahrungen, die bis heute nachwirken. Sie zeigen, wie Erinnerung, Identität und Zugehörigkeit in jeder Generation neu ausgehandelt werden.
Inhaltlich finden sich in den Aufnahmen Themen wie ostdeutsche Identität, die Rolle von Erinnerung in Familiengeschichten, Generationen im Dialog, Bleiben und Gehen, Aktivismus und gesellschaftlichen Wandel. Auch die Perspektiven aus Polen und Tschechien erweitern das Bild: Sozialismus, Transformation, Religion, Migration und europäische Solidarität erscheinen als Teil einer gemeinsamen, doch unterschiedlich gelebten Geschichte.
Aufgezeichnete Veranstaltungen:
-
05. November 2024: Aktivismus verbindet: Generationen im Dialog (Zwickau)
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07. November 2024: Should I stay or should I go? Wenn Leben in Ostdeutschland (un)möglich ist (Chemnitz)
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17. Dezember 2024: Zukunftsfrage(n) Erzgebirge: Bleiben oder Gehen? (Thalheim)
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14. März 2025: Workshop in Warschau, Polen
-
21. Mai 2025: Workshop in Budweis, Tschechien
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22. November 2024: Workshop in Chemnitz, Deutschland
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Die Stimmen laden ein, zuzuhören – nicht, um Antworten zu finden, sondern um die Vielfalt von Perspektiven zu begreifen, die unsere gemeinsame Geschichte tragen.
Collagen by k_einheit
2024 - 2025
In der zweiten Projektphase von “Generationsgeschichten: Grenzen überwinden, Identität(en) gestalten” wurden Workshops in Deutschland, Polen und Tschechien mit jungen Menschen (1997 - 2012) durchgeführt. Im Anschluss kamen die Teilnehmenden zu einer gemeinsamen Online-Konferenz im Sommer 2025 zusammen. Jede Collage erzählt von einem Ich – und zugleich von einem Wir. Aus Gesprächen, Erinnerungen und Visionen sind Bildräume entstanden, in denen Vergangenes und Zukünftiges ineinandergreifen. Zeitungsschnipsel, Fotos, Worte und Farben werden zu Schichten eines kollektiven Gedächtnisses.
Die Collagen halten fest, was im Wandel ist: Identität als bewegliche Struktur, als Zwischenraum von Geschichte und Gegenwart. Sie zeigen Spuren von Transformation – Familiengeschichten, Orte des Umbruchs, Brüche und Neubeginne. Was bleibt, wenn Systeme verschwinden? Was entsteht, wenn Grenzen sich öffnen?
Wie in einem Mosaik verbinden sich persönliche Fragmente zu einem europäischen Bild: kein geschlossenes Narrativ, sondern ein offener Prozess. Erinnerung wird hier nicht archiviert, sondern weitergeführt – als Einladung, die eigene Geschichte mitzudenken.
Durchgeführte Workshops:
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14. März 2025: Workshop in Warschau, Polen
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21. Mai 2025: Workshop in Budweis, Tschechien
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22. November 2024: Workshop in Chemnitz, Deutschland
Graphic Reordings by k_einheit
Stephanie Brittnacher, 2024; Mimi Hoang, 2024
Die Graphic Recordings von Stephanie Brittnacher und Mimi Hoang sind im Rahmen des Projekts “Generationsgeschichten” im Jahr 2024 entstanden. Während verschiedener Generationendialoge in Chemnitz und Umgebung übersetzten die Künstlerinnen gesprochene Worte, Diskussionen und Stimmungen in eine bildhafte Sprache. Linien, Figuren und Symbole halten fest, was im Moment geteilt wurde – Gedanken, Fragen und Emotionen, die sonst flüchtig bleiben, werden in visuelle Spuren verwandelt.
So entsteht ein kollektives Gedächtnis in Bildern: Jede Zeichnung verdichtet das Gesagte und Gehörte zu einer erzählerischen Topografie. Sie dokumentierten nicht nur Inhalte, sondern auch Atmosphären – das, was zwischen den Worten schwingt. Dadurch laden die Werke dazu ein, die Ereignisse erneut zu durchleben, nachzuvollziehen und weiterzudenken.
Inhaltlich visualisieren die Graphic Recordings Themen, die das Spannungsfeld zwischen Herkunft, Zugehörigkeit und Zukunft sichtbar machen: Wie begegnen sich Generationen in ihrem Engagement und Aktivismus? Was bedeutet es, in Ostdeutschland zu bleiben – oder zu gehen? Und wie verändern sich Lebensperspektiven in strukturschwachen Regionen wie dem Erzgebirge? Die Bilder machen diese Fragen sichtbar. Sie zeigen Stimmen, Beziehungen und Brüche – Momente der Verbundenheit ebenso wie des Auseinandergehens.
Die Graphic Recordings öffnen so einen Raum des gemeinsamen Erinnerns. Sie machen Dialoge erfahrbar, in denen unterschiedliche Perspektiven, Generationen und Lebensrealitäten aufeinandertreffen. Das Zeichnen selbst wird dabei zur Geste der Verbindung – zwischen Sprecherinnen und Zuhörerinnen, Vergangenheit und Gegenwart, Dokumentation und Interpretation.
Begleitete Veranstaltungen:
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Stephanie Brittnacher
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28. September 2024: CHEMNITZER WANDELungen: Generationendialog mit k_einheit (Chemnitz; gemeinsam mit bpb)
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Mimi Hoang
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05. November 2024: Aktivismus verbindet: Generationen im Dialog (Zwickau)
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07. November 2024: Should I stay or should I go? Wenn Leben in Ostdeutschland (un)möglich ist (Chemnitz; gemeinsam mit Jugendstil und DaMOst)
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17. Dezember 2024: Zukunftsfrage(n) Erzgebirge: Bleiben oder Gehen? (Thalheim)
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Das Nest der Arachne
Luise von Cossart, Skulptur; Glas, Spitzenvorhänge (aus dem RAW-Gelände), Seil/Schnur; 2025
Das Nest der Arachne entsteht vor Ort im Dialog zwischen der Künstlerin und den Besucher*innen. Ausgangspunkt der Arbeit ist der Raum der Werkstatt und aufgespannte Spitzenvorhänge aus dem ehemaligen RAW-Gelände, die zu fragilen Neststrukturen gewoben werden. Im Verlauf der Ausstellung füllen sich diese Nester mit kleinen Glaskapseln – Behältnissen, die von der Künstlerin vorbereitet und von den Teilnehmenden mit persönlichen Erinnerungen, Gedanken, Fragen oder Assoziationen versehen werden.
So entsteht ein wachsendes Gefüge aus Individuellem und Gemeinschaftlichem, eine sich verdichtende Topografie geteilter Erfahrung. Das Material der Spitzenvorhänge verbindet die ästhetische Sprache des RAW-Geländes, wie sie der Künstlerin vertraut ist, mit der gegenwärtigen räumlichen Situation der Werkstatt – einem Stellvertreterort ihrer eigenen Arbeitsweise und Erinnerung.
Die Arbeit spannt den Bogen über das gesamte Projekt Schichtwechsel: Sie greift den Habitus des Festhaltens und der Retrospektive auf, wendet den Blick jedoch zugleich in die Gegenwart. In der gemeinschaftlichen Handlung des Füllens und Verknüpfens entsteht ein neuer Ansatz des Erinnerns – kein archivierendes, sondern ein lebendiges, atmendes Gedächtnis. Der Titel verweist auf den altgriechischen Begriff der Arachne (ἀράχνη) zu deutsch: „Spinne“ und damit auf das historische Symbol des Webens und Spinnens als kollektive, schöpferische Tätigkeit. Dieses Motiv verbindet die kulturelle Arbeit des Erinnerns mit der künstlerischen Praxis des Verflechtens. Dieses Nest der Arachne wird so zu einem Ort des Neuanfangs für eine neue Form von kollektivem Gedächtnis.
Inventurdifferenz
Luise von Cossart, Zitatselektion; Bleisatz auf DDR Papier und RAW Unterlagen; Edition 2023
“Eine Inventurdifferenz ist die Abweichung zwischen dem Soll-Bestand und dem Ist-Bestand eines Unternehmens, die auf Fehler, Schwund, Diebstahl, Verderb, oder andere Ursachen zurückzuführen ist.”
Von dieser nüchternen Definition löst sich die Arbeit und überträgt sie in einen künstlerischen Kontext, in dem Differenz als metaphorischer Raum der Erinnerung und des Fragens erscheint. Die Arbeit versammelt eine Auswahl von Zitaten, entnommen aus den verbliebenen Unterlagen aus den Archiven des ehemaligen RAW in Halle (Saale). Präsentiert in herausnehmbaren Hängeregistraturen, werden sie zu materiellen Zeugen vergangener Ordnungen.
Inventurdifferenz versteht sich als Versuch, diesen Verlust sichtbar zu machen – als Ist-Zustand, der dem abwesenden Soll der Vergangenheit gegenübertritt. Materialität, Typografie und Herstellungsweise lehnen sich an die originalen DDR-Archivpraktiken an. Durch diese formale Nähe entsteht ein Spannungsfeld zwischen Authentizität und Inszenierung. Das Werk erscheint zugleich als historisches Dokument und als dessen bewusste Rekonstruktion – eine performative Geste, die die Unmöglichkeit einer exakten Wiedergabe von Geschichte offenlegt.
Die Zitate wurden nach ihrer emotionalen Intensität und ihrer „gefühlten Wahrheit“ ausgewählt – nach jenen Sätzen, die Fragen hervorrufen, Irritation stiften oder eine Überzeugung in sich tragen, dass Wahrheit in ihnen eingeschlossen liegt. In dieser Selektion verdichtet sich die subjektive Dimension der Recherche: Eine Suche nach Wahrhaftigkeit im Fragmentarischen, ein Tasten durch Erinnerung und Erzählung.
Inventurdifferenz reflektiert somit nicht nur einen historischen Zustand, sondern auch den Akt des Sammelns, Deutens und Zweifelns selbst. Sie markiert den Zwischenraum zwischen Fakt und Gefühl, Dokument und Fiktion – und wird damit zu einem zentralen Kommentar innerhalb des Projekts Schichtwechsel, das sich der Frage nach der Rekonstruktion von Vergangenheit stellt.
Phaeton, der Strahlende
hängende Skulptur (4-teilig); Glas, Metall; 2025
Im Raum verteilt hängen vier gläserne Skulpturen von der Decke. Jede Form besteht aus einer hohlen Glaskugel, über die während des Entstehungsprozesses ein oder mehrere Metallringe gezogen wurden. Diese Metallteile sind Fundstücke aus dem RAW-Gelände in Halle – Überreste technischer Apparaturen, deren ursprüngliche Funktionen für die Künstlerin unklar sind. Gerade diese Ungewissheit bildet den Ausgangspunkt der Arbeit: Sie eröffnet einen Raum der Hypothese, des imaginativen Rückschlusses auf Vergangenes, dessen Teil man nie war, dem man sich jedoch ausgesetzt sieht – in den stillen, verlassenen Räumen, in den unerzählten Geschichten des Ortes.
Der hohle Glaskörper, der an einen Planeten erinnernden Skulptur, markiert hier eine materielle Leerstelle, dessen sich eine inhaltliche Hypothese anschmiegt. Die formale Assoziation mit der Form eines Planeten stellt zudem einen Rückbezug auf die hypothetische Existenz eines zusätzlichen Planeten in unserem Sonnensystem namens Phaeton.
Damit verhandelt die Arbeit auf dieser Ebene die inhaltliche Tätigkeit und Verortung der Künstlerin innerhalb des Schichtwechsel-Projekts – eine hypothetische Annäherung und der Blick durch das Fernrohr des Astronoms in die eigene Vergangenheit.
Fußnote: Der Wissenschaftler Johann Daniel Titius stellte im 18. Jahrhundert eine empirische Formel auf, die die Bahnabstandsverhältnisse der damals bekannten Planeten in unserem Sonnensystem, beschreiben sollte. Aufgrund dieser Formel kam er zu dem Schluss, dass sich zwischen Mars und Jupiter ein zusätzlicher Planet befinden müsste – den er Phaeton nannte. Diese Theorie konnte widerlegt werden.
Renovierung von verlorenen Orten
Luise von Cossart, Annina Sarantis, Videoperformance, Projektion; Länge 27:24 min (Schleife); 2022
In einer Halle der ehemaligen Schmiede steht eine bunt besprühte Maschine – ein Relikt vergangener Arbeit und Erinnerung. In der Videoarbeit wird dieses Objekt von zwei Personen in einen abstrakt weißen Zustand überführt. Während sie Schicht um Schicht auftragen, tropft Regen durch die löchrige Decke. Geräusche des Tropfens vermischen sich mit dem gleichmäßigen Rhythmus ihrer Gesten. So entsteht ein stilles Zusammenspiel von Körper, Raum und Material.
Mit fortschreitendem Prozess verwandelt sich die Maschine zunehmend in einen Kontrastpunkt zum brüchigen Umfeld. Die weiße Oberfläche wirkt wie eine Projektion des Unversehrten – ein Versuch, den Verfall für einen Moment aufzuhalten. Doch dieser Akt der Übermalung bleibt ambivalent: Er ist sowohl eine Geste der Bewahrung als auch des Überschreibens.
Das „Weißeln“ wird so zu einer performativen Handlung, die Zeit und Erinnerung thematisiert. In einem beinahe vergeblichen Versuch, die Zeit rückwärts laufen zu lassen, entsteht eine Spannung zwischen der Veränderung des Objekts und dem sichtbaren Zerfall des Raumes. Der Akt des Übermalens überbrückt die zeitliche Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und lässt die Geschichte des Ortes als körperliche Spur neu aufscheinen.
Broszura do pobrania
Szczegółowy opis dzieła
Im Labyrynt
Luise von Cossart, Videoperformance, Lä.nge 7:24 min (Schleife); 2023
In der Weite des ehemaligen RAW-Geländes bewegt sich eine einzelne Protagonistin durch ein aus Gips gestreutes Labyrinth. Die Wege, Schleifen und Sackgassen ziehen sich über den gesamten Boden der Halle – eine ausgebreitete Kartografie des Suchens. Mit beharrlichen Schritten folgt sie den Linien, kehrt um, orientiert sich neu. Das Knirschen von Glas, das Rascheln vergilbter Unterlagen und das Geräusch beschleunigender Züge bilden die akustische Kulisse dieses tastenden Erkundens. Der zentrale Moment der Arbeit liegt im Sich Verlaufen.
Die Irrwege wurden instinktiv gestreut, ohne vorherige Planung, wodurch eine Gleichzeitigkeit von Intuition und Unbestimmtheit entsteht. Die kleine, beinahe figürliche Gestalt der Protagonistin steht im starken Kontrast zur Größe der Halle. Ein visueller Verweis auf das Verhältnis zwischen Eingrenzung und Erkundung. Labyrinth und Zufall existieren hier nicht als Gegensätze, sondern als kooperative Kräfte im Prozess des Suchens.
Als erste Arbeit des Projekts Schichtwechsel markiert dieses Werk den Beginn einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Raum, Orientierung und Veränderung. Es entstand aus der Erfahrung des Übergangs – einer neuen Stadt, eines neuen Ortes, einer gesellschaftlichen Umbruchszeit.
Hier beginnt die Suche.
Was tun mit verblühten Blumen?
Luise von Cossart, Papier, 46 x 68 cm; 2023
Die sechsteilige Werkreihe, bestehend aus DDR-Musterblättern, zeigt ein immer blasser werdendes Blumenmuster. Ausgangspunkt ist ein vertrautes, ornamentales Motiv, das mittels Lasertechnik schichtweise abgetragen wurde. Das Muster wird zum Echo, zur Erinnerung einer Erinnerung. Diese allmähliche Auflösung verweist auf den Prozess gesellschaftlicher und individueller Alterung – auf das Verschwinden von Vertrautheit und das gleichzeitige Entstehen von Fremdheit. Ein Wandel in der Gesellschaft, der nicht nur auf politischer, sondern auch auf privater Ebene spürbar wird. Sie untersucht das Spannungsverhältnis zwischen materieller Oberfläche und kollektiver Erinnerung. Die Arbeit spiegelt die Herausforderungen des Erinnerns und Verstehens der eigenen Geschichte wider. Sie entstand in einer Phase des beschleunigten Wandels, als der Zerfall der Gebäude – und mit ihm die materiellen Spuren der DDR – sichtbar wurde. Ein Nachhall des Vertrauten auf dem Weg ins Unsichtbare. In diesem Spannungsfeld zwischen materieller Spur und erinnerter Bedeutung entfaltet sich eine Reflexion über die Fragilität historischer Narrationen und die Bedingungen ihrer Sichtbarkeit.
Zeitkapseln oder Spuren verlorener Räume II
Luise von Cossart, Glas, Kohle; 2023
Die Arbeit Zeitkapseln besteht aus drei geblasenen gläsernen Behältnissen mit mehreren Kammern, die jeweils einige Stücken Kohle umschließen – Überreste verbrannter Gebäude des RAW-Geländes in Halle (Saale). Die Kapseln fungieren als Verwahrungsobjekt, als Erinnerungsstück und als Momentaufnahme zwischen materieller Zerstörung und symbolischer Kontinuität. Die Arbeit erzählt vom Loslassen, Abschied nehmen und von den Veränderungen, die damit einhergehen.
Das Glas fungiert hierbei als Grenze und Vermittler zugleich. Es konserviert das Fragment und überführt es zugleich in einen neuen Bedeutungsraum: von der Spur zur Form, vom Verlust zum Objekt. Das Sammeln und Einschließen der Kohle markiert den Versuch, eine Geste der Bewahrung gegen den fortschreitenden Verfall zu setzen. Was in der materiellen Welt vergeht, findet im Werk eine zweite Existenz – als verdichtete Erinnerung und als Reflexion über das Verhältnis von Zeit, Ort und Materie. Von Cossart bewahrt die letzten Spuren Ihrer Suche vor Ort auf. Der Vergänglichkeit zum Trotz.
Spuren verlorener Räume
Luise von Cossart, Farbe und Kohle auf Leinwand; 2024, 110x170cm
In reduzierter Farbigkeit zwischen tiefem Schwarz und einem ins Weiß changieren, entfaltet sich ein fragmentarischer Blick auf die Räume des ehemaligen RAW-Geländes in Halle. Ein Fenster mit Spitzenvorhang, alte Neonröhren, architektonische Bruchstücke – Spuren einer verschwindenden Ästhetik und zugleich Träger von Erinnerung. Ein Zustand der Verzerrung, in dem der Raum sich durch das Gewicht der Zeit verbiegt und verändert.
Zentral ist hier die Materialität des Werkes: Die Künstlerin arbeitet mit verbrannter Kohle, die sie nach einem Brand auf dem Gelände gesammelt hat. Das Trägermaterial wird so selbst zum Archiv, zum Speicher von Ort und Zeit. Die Transformation des zerstörten Materials in malerische Substanz ist eine Geste der Umwandlung – von Verlust zu Präsenz, von Vergänglichkeit zu Dauer. Es wird ein Spannungsfeld zwischen der Dokumentation von Verfall und der Transformation in etwas Neues eröffnet.
Der Spitzenvorhang, der sich über die rechte Bildhälfte erstreckt, fungiert als wiederkehrendes ikonisches Element im Werk von Cossarts. Er verweist auf eine kulturell eingeschriebene Bildlichkeit gewohnter Vertrautheit, die sich in der kollektiven visuellen Erinnerung verankert hat. Das Werk verhandelt Fragen nach der Persistenz und Stetigkeit des Materiellen und der Möglichkeit, durch künstlerische Praxis Erinnerung zu bewahren. Es setzt dem Chaos einen Moment der Verdichtung entgegen – eine Form, die aus dem Verfall hervorgeht und ihm zugleich widerstrebt.
Zwischentöne by k_einheit
Audioaufzeichnungen, 2024–2025
Die Audioaufzeichnungen geben den Stimmen der Teilnehmenden und Besuchenden Raum. Im Anschluss an die Generationendialoge und Workshops des Projekts “Generationsgeschichten” erzählten sie von Eindrücken, Erlebnissen und Gedanken, im Nachgang der Veranstaltungen. Manche antworteten auf konkrete Fragen, andere erzählten frei von persönlichen Erfahrungen, Emotionen oder Beobachtungen.
Die Aufnahmen sind mehr als eine Dokumentation – sie sind Erinnerungsstücke. Sie machen hörbar, wie Menschen Geschichte und Gegenwart deuten, welche Fragen sie bewegen und welche Hoffnungen sie tragen. Jede Stimme ist ein Fragment eines größeren Ganzen, ein Echo gemeinsamer Erfahrung.
So entstand ein vielstimmiges Klangarchiv europäischer Erinnerungskultur, das hörbar macht, wie unterschiedlich Menschen Geschichte und Gegenwart erleben. Die Stimmen erzählen von Transformation und Umbruch, von Familiengeschichten und gesellschaftlichen Erfahrungen, die bis heute nachwirken. Sie zeigen, wie Erinnerung, Identität und Zugehörigkeit in jeder Generation neu ausgehandelt werden.
Inhaltlich finden sich in den Aufnahmen Themen wie ostdeutsche Identität, die Rolle von Erinnerung in Familiengeschichten, Generationen im Dialog, Bleiben und Gehen, Aktivismus und gesellschaftlichen Wandel. Auch die Perspektiven aus Polen und Tschechien erweitern das Bild: Sozialismus, Transformation, Religion, Migration und europäische Solidarität erscheinen als Teil einer gemeinsamen, doch unterschiedlich gelebten Geschichte.
Aufgezeichnete Veranstaltungen:
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05. November 2024: Aktivismus verbindet: Generationen im Dialog (Zwickau)
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07. November 2024: Should I stay or should I go? Wenn Leben in Ostdeutschland (un)möglich ist (Chemnitz)
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17. Dezember 2024: Zukunftsfrage(n) Erzgebirge: Bleiben oder Gehen? (Thalheim)
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14. März 2025: Workshop in Warschau, Polen
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21. Mai 2025: Workshop in Budweis, Tschechien
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22. November 2024: Workshop in Chemnitz, Deutschland
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Die Stimmen laden ein, zuzuhören – nicht, um Antworten zu finden, sondern um die Vielfalt von Perspektiven zu begreifen, die unsere gemeinsame Geschichte tragen.
Collagen by k_einheit
2024 - 2025
In der zweiten Projektphase von “Generationsgeschichten: Grenzen überwinden, Identität(en) gestalten” wurden Workshops in Deutschland, Polen und Tschechien mit jungen Menschen (1997 - 2012) durchgeführt. Im Anschluss kamen die Teilnehmenden zu einer gemeinsamen Online-Konferenz im Sommer 2025 zusammen. Jede Collage erzählt von einem Ich – und zugleich von einem Wir. Aus Gesprächen, Erinnerungen und Visionen sind Bildräume entstanden, in denen Vergangenes und Zukünftiges ineinandergreifen. Zeitungsschnipsel, Fotos, Worte und Farben werden zu Schichten eines kollektiven Gedächtnisses.
Die Collagen halten fest, was im Wandel ist: Identität als bewegliche Struktur, als Zwischenraum von Geschichte und Gegenwart. Sie zeigen Spuren von Transformation – Familiengeschichten, Orte des Umbruchs, Brüche und Neubeginne. Was bleibt, wenn Systeme verschwinden? Was entsteht, wenn Grenzen sich öffnen?
Wie in einem Mosaik verbinden sich persönliche Fragmente zu einem europäischen Bild: kein geschlossenes Narrativ, sondern ein offener Prozess. Erinnerung wird hier nicht archiviert, sondern weitergeführt – als Einladung, die eigene Geschichte mitzudenken.
Durchgeführte Workshops:
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14. März 2025: Workshop in Warschau, Polen
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21. Mai 2025: Workshop in Budweis, Tschechien
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22. November 2024: Workshop in Chemnitz, Deutschland
Graphic Reordings by k_einheit
Stephanie Brittnacher, 2024; Mimi Hoang, 2024
Die Graphic Recordings von Stephanie Brittnacher und Mimi Hoang sind im Rahmen des Projekts “Generationsgeschichten” im Jahr 2024 entstanden. Während verschiedener Generationendialoge in Chemnitz und Umgebung übersetzten die Künstlerinnen gesprochene Worte, Diskussionen und Stimmungen in eine bildhafte Sprache. Linien, Figuren und Symbole halten fest, was im Moment geteilt wurde – Gedanken, Fragen und Emotionen, die sonst flüchtig bleiben, werden in visuelle Spuren verwandelt.
So entsteht ein kollektives Gedächtnis in Bildern: Jede Zeichnung verdichtet das Gesagte und Gehörte zu einer erzählerischen Topografie. Sie dokumentierten nicht nur Inhalte, sondern auch Atmosphären – das, was zwischen den Worten schwingt. Dadurch laden die Werke dazu ein, die Ereignisse erneut zu durchleben, nachzuvollziehen und weiterzudenken.
Inhaltlich visualisieren die Graphic Recordings Themen, die das Spannungsfeld zwischen Herkunft, Zugehörigkeit und Zukunft sichtbar machen: Wie begegnen sich Generationen in ihrem Engagement und Aktivismus? Was bedeutet es, in Ostdeutschland zu bleiben – oder zu gehen? Und wie verändern sich Lebensperspektiven in strukturschwachen Regionen wie dem Erzgebirge? Die Bilder machen diese Fragen sichtbar. Sie zeigen Stimmen, Beziehungen und Brüche – Momente der Verbundenheit ebenso wie des Auseinandergehens.
Die Graphic Recordings öffnen so einen Raum des gemeinsamen Erinnerns. Sie machen Dialoge erfahrbar, in denen unterschiedliche Perspektiven, Generationen und Lebensrealitäten aufeinandertreffen. Das Zeichnen selbst wird dabei zur Geste der Verbindung – zwischen Sprecherinnen und Zuhörerinnen, Vergangenheit und Gegenwart, Dokumentation und Interpretation.
Begleitete Veranstaltungen:
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Stephanie Brittnacher
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28. September 2024: CHEMNITZER WANDELungen: Generationendialog mit k_einheit (Chemnitz; gemeinsam mit bpb)
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Mimi Hoang
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05. November 2024: Aktivismus verbindet: Generationen im Dialog (Zwickau)
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07. November 2024: Should I stay or should I go? Wenn Leben in Ostdeutschland (un)möglich ist (Chemnitz; gemeinsam mit Jugendstil und DaMOst)
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17. Dezember 2024: Zukunftsfrage(n) Erzgebirge: Bleiben oder Gehen? (Thalheim)
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Das Nest der Arachne
Luise von Cossart, Skulptur; Glas, Spitzenvorhänge (aus dem RAW-Gelände), Seil/Schnur; 2025
Das Nest der Arachne entsteht vor Ort im Dialog zwischen der Künstlerin und den Besucher*innen. Ausgangspunkt der Arbeit ist der Raum der Werkstatt und aufgespannte Spitzenvorhänge aus dem ehemaligen RAW-Gelände, die zu fragilen Neststrukturen gewoben werden. Im Verlauf der Ausstellung füllen sich diese Nester mit kleinen Glaskapseln – Behältnissen, die von der Künstlerin vorbereitet und von den Teilnehmenden mit persönlichen Erinnerungen, Gedanken, Fragen oder Assoziationen versehen werden.
So entsteht ein wachsendes Gefüge aus Individuellem und Gemeinschaftlichem, eine sich verdichtende Topografie geteilter Erfahrung. Das Material der Spitzenvorhänge verbindet die ästhetische Sprache des RAW-Geländes, wie sie der Künstlerin vertraut ist, mit der gegenwärtigen räumlichen Situation der Werkstatt – einem Stellvertreterort ihrer eigenen Arbeitsweise und Erinnerung.
Die Arbeit spannt den Bogen über das gesamte Projekt Schichtwechsel: Sie greift den Habitus des Festhaltens und der Retrospektive auf, wendet den Blick jedoch zugleich in die Gegenwart. In der gemeinschaftlichen Handlung des Füllens und Verknüpfens entsteht ein neuer Ansatz des Erinnerns – kein archivierendes, sondern ein lebendiges, atmendes Gedächtnis. Der Titel verweist auf den altgriechischen Begriff der Arachne (ἀράχνη) zu deutsch: „Spinne“ und damit auf das historische Symbol des Webens und Spinnens als kollektive, schöpferische Tätigkeit. Dieses Motiv verbindet die kulturelle Arbeit des Erinnerns mit der künstlerischen Praxis des Verflechtens. Dieses Nest der Arachne wird so zu einem Ort des Neuanfangs für eine neue Form von kollektivem Gedächtnis.
Inventurdifferenz
Luise von Cossart, Zitatselektion; Bleisatz auf DDR Papier und RAW Unterlagen; Edition 2023
“Eine Inventurdifferenz ist die Abweichung zwischen dem Soll-Bestand und dem Ist-Bestand eines Unternehmens, die auf Fehler, Schwund, Diebstahl, Verderb, oder andere Ursachen zurückzuführen ist.”
Von dieser nüchternen Definition löst sich die Arbeit und überträgt sie in einen künstlerischen Kontext, in dem Differenz als metaphorischer Raum der Erinnerung und des Fragens erscheint. Die Arbeit versammelt eine Auswahl von Zitaten, entnommen aus den verbliebenen Unterlagen aus den Archiven des ehemaligen RAW in Halle (Saale). Präsentiert in herausnehmbaren Hängeregistraturen, werden sie zu materiellen Zeugen vergangener Ordnungen.
Inventurdifferenz versteht sich als Versuch, diesen Verlust sichtbar zu machen – als Ist-Zustand, der dem abwesenden Soll der Vergangenheit gegenübertritt. Materialität, Typografie und Herstellungsweise lehnen sich an die originalen DDR-Archivpraktiken an. Durch diese formale Nähe entsteht ein Spannungsfeld zwischen Authentizität und Inszenierung. Das Werk erscheint zugleich als historisches Dokument und als dessen bewusste Rekonstruktion – eine performative Geste, die die Unmöglichkeit einer exakten Wiedergabe von Geschichte offenlegt.
Die Zitate wurden nach ihrer emotionalen Intensität und ihrer „gefühlten Wahrheit“ ausgewählt – nach jenen Sätzen, die Fragen hervorrufen, Irritation stiften oder eine Überzeugung in sich tragen, dass Wahrheit in ihnen eingeschlossen liegt. In dieser Selektion verdichtet sich die subjektive Dimension der Recherche: Eine Suche nach Wahrhaftigkeit im Fragmentarischen, ein Tasten durch Erinnerung und Erzählung.
Inventurdifferenz reflektiert somit nicht nur einen historischen Zustand, sondern auch den Akt des Sammelns, Deutens und Zweifelns selbst. Sie markiert den Zwischenraum zwischen Fakt und Gefühl, Dokument und Fiktion – und wird damit zu einem zentralen Kommentar innerhalb des Projekts Schichtwechsel, das sich der Frage nach der Rekonstruktion von Vergangenheit stellt.
Phaeton, der Strahlende
hängende Skulptur (4-teilig); Glas, Metall; 2025
Im Raum verteilt hängen vier gläserne Skulpturen von der Decke. Jede Form besteht aus einer hohlen Glaskugel, über die während des Entstehungsprozesses ein oder mehrere Metallringe gezogen wurden. Diese Metallteile sind Fundstücke aus dem RAW-Gelände in Halle – Überreste technischer Apparaturen, deren ursprüngliche Funktionen für die Künstlerin unklar sind. Gerade diese Ungewissheit bildet den Ausgangspunkt der Arbeit: Sie eröffnet einen Raum der Hypothese, des imaginativen Rückschlusses auf Vergangenes, dessen Teil man nie war, dem man sich jedoch ausgesetzt sieht – in den stillen, verlassenen Räumen, in den unerzählten Geschichten des Ortes.
Der hohle Glaskörper, der an einen Planeten erinnernden Skulptur, markiert hier eine materielle Leerstelle, dessen sich eine inhaltliche Hypothese anschmiegt. Die formale Assoziation mit der Form eines Planeten stellt zudem einen Rückbezug auf die hypothetische Existenz eines zusätzlichen Planeten in unserem Sonnensystem namens Phaeton.
Damit verhandelt die Arbeit auf dieser Ebene die inhaltliche Tätigkeit und Verortung der Künstlerin innerhalb des Schichtwechsel-Projekts – eine hypothetische Annäherung und der Blick durch das Fernrohr des Astronoms in die eigene Vergangenheit.
Fußnote: Der Wissenschaftler Johann Daniel Titius stellte im 18. Jahrhundert eine empirische Formel auf, die die Bahnabstandsverhältnisse der damals bekannten Planeten in unserem Sonnensystem, beschreiben sollte. Aufgrund dieser Formel kam er zu dem Schluss, dass sich zwischen Mars und Jupiter ein zusätzlicher Planet befinden müsste – den er Phaeton nannte. Diese Theorie konnte widerlegt werden.
Renovierung von verlorenen Orten
Luise von Cossart, Annina Sarantis, Videoperformance, Projektion; Länge 27:24 min (Schleife); 2022
In einer Halle der ehemaligen Schmiede steht eine bunt besprühte Maschine – ein Relikt vergangener Arbeit und Erinnerung. In der Videoarbeit wird dieses Objekt von zwei Personen in einen abstrakt weißen Zustand überführt. Während sie Schicht um Schicht auftragen, tropft Regen durch die löchrige Decke. Geräusche des Tropfens vermischen sich mit dem gleichmäßigen Rhythmus ihrer Gesten. So entsteht ein stilles Zusammenspiel von Körper, Raum und Material.
Mit fortschreitendem Prozess verwandelt sich die Maschine zunehmend in einen Kontrastpunkt zum brüchigen Umfeld. Die weiße Oberfläche wirkt wie eine Projektion des Unversehrten – ein Versuch, den Verfall für einen Moment aufzuhalten. Doch dieser Akt der Übermalung bleibt ambivalent: Er ist sowohl eine Geste der Bewahrung als auch des Überschreibens.
Das „Weißeln“ wird so zu einer performativen Handlung, die Zeit und Erinnerung thematisiert. In einem beinahe vergeblichen Versuch, die Zeit rückwärts laufen zu lassen, entsteht eine Spannung zwischen der Veränderung des Objekts und dem sichtbaren Zerfall des Raumes. Der Akt des Übermalens überbrückt die zeitliche Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und lässt die Geschichte des Ortes als körperliche Spur neu aufscheinen.